Gemeinsam statt jeder für sich: In enger Zusammenarbeit mit den wichtigsten Akteuren des Gesundheitswesens will Rémi Guidon, Geschäftsführer der neuen Tariforganisation OAAT, dem neuen ambulanten Arzttarif zum Durchbruch verhelfen. «Wir haben eine grosse Chance, die wir unbedingt nutzen sollten.»
Seit Anfang April 2023 sind Sie Geschäftsführer der Tariforganisation OAAT. Keine einfache Aufgabe, die Sie sich da ausgesucht haben…
Die Aufgabe ist sicher nicht einfach – aber sie ist eben auch sehr reizvoll. Einerseits habe ich die Chance, eine wichtige Tariforganisation neu aufzubauen, andererseits darf ich gemeinsam mit den wichtigsten Akteuren des Gesundheitswesens einen ambulanten Arzttarif für das Gesundheitswesen der Zukunft mitgestalten. Das ist natürlich äusserst spannend für mich.
In Ihrer neuen Rolle müssen Sie die Interessen der Leistungserbringer, Kostenträger, Verbände, Verwaltung sowie der Politik unter einen Hut bringen. Ein schwieriger Spagat?
Ein schwieriger Spagat ja, aber den bin ich mir von meiner Tätigkeit bei der Tariforganisation SwissDRG bereits gewohnt. Also ist es keine grundsätzlich neue Situation. Die grösste Schwierigkeit sehe ich eher in der Folge der Blockade im ambulanten Bereich, die in den vergangenen Jahren doch stark spürbar war. Die beiden neuen Tarifwerke wurden mit einer gewissen Distanz zueinander entwickelt und müssen nun hinsichtlich einer geregelten Anwendung koordiniert werden. Diese Aufgabe ist sicher nicht einfach und alle Akteure müssen einen Schritt machen. Dieses Problem kann ich nicht alleine lösen.
Haben Sie einen spezifischen Wunsch oder eine Botschaft an alle Akteure?
Wir haben im Moment eine grosse Chance, gemeinsam einen Gesamt-Tarif für den ambulanten Bereich zu schaffen. Diese Chance sollten wir unbedingt nutzen. Denn gemeinsam sind wir deutlich stärker, als wenn einzelne Gruppierungen für sich alleine nach Lösungen suchen. Wenn wir gemeinsam ein neues Tarifsystem, basierend auf Pauschalen und Einzelleistungstarif, einreichen können, ist dies ein starkes Signal an Bund und Politik.
Sehen Sie mit dem neuen Tarif auch die Chance, den aktuellen Kostenanstieg zu bremsen?
Soweit kann ich zum heutigen Zeitpunkt nicht gehen. Um den Einfluss des neuen Tarifs auf die Kosten zu schätzen, fehlt der OAAT AG aktuell schlichtweg die Datengrundlage. Entsprechend ist es mir nicht möglich, Simulationen durchzuführen, die eine solche Einschätzung erlauben würden. Vorderhand muss es den Akteuren darum gehen, die Autonomie über den ambulanten Tarif zu behalten und künftig eine adäquate Weiterentwicklung zu ermöglichen. Schliesslich sind sie später auch die Anwender des Tarifs, deshalb sollte ihnen diese Autonomie besonders am Herzen liegen.
Und wenn die gemeinsame Einführung nicht gelingt: Rechnen Sie mit einer Verstaatlichung des Arzttarifs?
Beim aktuellen Einzelleistungstarif Tarmed haben wir gesehen, was dann passieren kann. Auch da gab es meines Wissens unterschiedliche Diskussionen unter den Akteuren über eine Tarifreform. Am Ende griff der Bundesrat ein und korrigierte den Tarif eigenhändig. Ich vermute, ein solches Szenario wünscht sich keiner der Verbände ein weiteres Mal.
Geplant ist die Einführung des neuen Tarifsystems per 1. Januar 2025. Das ist schon fast übermorgen. Ein ziemlich sportlicher Plan.
In der Tat: Dieser Zeitplan ist sehr sportlich und die Änderungen – vor allem für die Anwender – sind nicht zu unterschätzen: Statt mit einem müssen Leistungserbringer und Kostenträger in Zukunft möglicherweise mit zwei Tarifen abrechnen – mit ambulanten Pauschalen sowie dem Einzelleistungstarif Tardoc. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass lange nicht jeder Leistungserbringer gleichermassen von beiden neuen Tarifen betroffen sein wird. Aber ein Tarifwechsel ist nach meiner Einschätzung nie einfach. Andererseits ist die Entwicklung schon weit fortgeschritten: Die beiden Tarife liegen in einer Einführungsversion vor, jetzt geht es in die Vernehmlassung. Bis Ende Jahr sollen beide Tarife beim Bundesrat zur Genehmigung eingereicht werden.
Wie wichtig ist es, Pauschalen und Tardoc gleichzeitig einzuführen?
Sehr wichtig. Wie schon gesagt: Die Einführung eines neuen Tarifsystems ist für alle Beteiligten mit sehr grossem Aufwand verbunden! Deshalb wäre es wesentlich einfacher, wenn wir nur einmal das Tarifsystem stark anpassen müssten. Zudem würde ein gemeinsamer Tarif der Zukunft auch ein bisschen Ruhe in die Diskussion bringen und die koordinierte Weiterentwicklung könnte gemeinsam unter dem Dach der OAAT AG vorangetrieben werden.
Vor Ihrer Zeit bei OAAT wirkten Sie bei der Einführung der stationären Tarife TARPSY und ST Reha mit. Auch damals waren sich die Akteure lange nicht einig.
Stimmt. Aus Erfahrung kann ich sagen: Ein Tarifwechsel geht immer mit gewissen Diskussionen einher. Aber es gilt in diesem Zusammenhang auch festzuhalten, dass jene Akteure, die sich frühzeitig konstruktiv an der Diskussion beteiligen, sich mit den neuen Tarifen beschäftigten und die Änderungen antizipierten, viel eher «ready» sind und bei der Einführung deutlich weniger Probleme haben.
Ein neues Tarifsystem einzureichen ist das eine, die Genehmigung des Bundesrats zu erhalten, das andere. Entscheidend für jeden Tarif ist, ob damit die Neutralität und Sachlichkeit gewahrt werden kann. Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein?
Wie der Bundesrat die nun vorliegenden Tarife bewertet, kann und will ich natürlich nicht vorwegnehmen. Wichtig in Bezug auf die Neutralität und die Sachlichkeit ist meiner Meinung nach die Basis, auf welcher ein Tarif entwickelt wurde. Welche Konzepte liegen ihm zu Grunde und sind diese in der Branche anerkannt? Ein aus meiner persönlichen Sicht zentrales Element ist sicher die Datengrundlage. Wer hier eine saubere und verständliche Basis vorlegen kann, hat sicher gute Chancen auf eine Genehmigung. Das haben wir bei der Entwicklung der stationären Tarifstrukturen klar gesehen.
Die ambulanten Pauschalen basieren auf über einer Million Fällen aus 30 Spitälern. Damit ist die Datenbasis so umfassend wie bei keinem anderen ambulanten Tarifwerk.
Die Richtung, welche die Verbände H+ und santésuisse mit dem Pauschalensystem eingeschlagen haben, ist aus meiner Sicht richtig. Die Datengrundlage ist vergleichbar mit jener im stationären Spitalbereich. Aber auch hier gibt es sicher noch Verbesserungspotenzial. Die Frage ist: Wie kann die Datenbasis weiter vergrössert werden, damit sie möglichst alle ambulant tätigen Leistungserbringer abdeckt?
Der Einzelleistungstarif Tardoc basiert hingegen auf einer eher beschränkten Datenbasis. Hat der Tarif in dieser Form wirklich eine Chance, genehmigt zu werden?
Der Tardoc basiert meiner Einschätzung nach ebenfalls auf einer umfassenden Datenbasis, enthält aber ebenfalls normative Elemente, das ist so. Persönlich würde ich die Datenbasis nicht anzweifeln, da ich sie auch nicht im Detail kenne. Klar ist: Jeder Tarif hat in seiner Einführungsversion gewisse Schwächen. Das wissen auch die Tarif-Entwickler. Ziel muss es sein, Wege zu finden, die Tarife im Sinne eines lernenden Tarifs adäquat weiter zu entwickeln. Beim Tardoc laufen in Bezug auf die normativen Elemente bereits Projekte um diese zu validieren und zu aktualisieren.
Leicht dürfte dies beim Tardoc nicht werden...
Die Datenbasis zu verbessern, ist bei jedem Tarif schwierig. Schliesslich stammen diese Daten vor allem von Leistungserbringern, deren Hauptbusiness ein ganz anderes ist: nämlich die Betreuung der Patientinnen und Patienten. Da braucht es schon ein gewisses Verständnis und auch die notwendige Zeit für Optimierungen.
Welches sind die nächsten Schritte im Hinblick auf die Einführung per 1.1.2025?
Zuerst sind hier sicher die Konsultationsverfahren bei den Verbänden zu nennen. Diese werden für das weitere Vorgehen in Bezug auf das Einreichen der Genehmigungsgesuche beim Bundesrat von zentraler Bedeutung sein. Die Prüfung der Tarife ist schlussendlich Sache des Bundesamtes für Gesundheit, der Entscheid liegt am Ende beim Bundesrat. Wir bei der OAAT befassen uns gegenwärtig mit eher grundsätzlichen Fragen: Ist für die Einführung der beiden Tarife eine zusätzliche Koordination nötig? Können die Tarife zusammen funktionieren, ohne grosse administrative Hürden zu schaffen? Braucht es übergeordnete Massnahmen?
Lässt sich ein Tarif auch einführen, wenn letzte Fragen noch offen sind?
Natürlich müssen die zentralen Punkte geklärt sein. Aber sobald ein Tarif einen gewissen Stand erreicht und die Risiken für die Anwender überschaubar sind, kann man durchaus mit einer Version starten, die noch Lücken aufweist. Diese Lücken – gerade im Bereich der Datengrundlage – vorgängig zu schliessen, ist manchmal recht aufwändig und zeitintensiv. Diese Aufgabe kann die OAAT in Zukunft gemeinsam mit allen wichtigen Tarifpartnern an die Hand nehmen und die Tarife laufend besser machen.